Stress im System oder System im Stress?

| Ulrich Dehner
Stress gehört zu den prominentesten Themen der Arbeitswelt. Neue Untersuchungen belegen, dass es keine Entspannung in dieser Hinsicht gibt, obwohl Covid nur noch eine geringfügige oder gar keine Rolle mehr spielt. Doch Stress ist nicht nur ein individuelles Problem, es ist auch eines des gesamten Systems, weshalb es sich für Führungskräfte und Coaches lohnt, auch systemische Ansätze zu kennen und gegebenenfalls zu nutzen.
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Das Beratungsunternehmen Gallup hat eine neue Studie hinsichtlich der Stressbelastung in Europa durchgeführt. Für uns besonders interessant sind die Befragungen im deutschsprachigen Raum. Das erstaunliche Ergebnis: Während in Österreich und der Schweiz mit dem Ende der Pandemie die Stressbelastung gesunken ist, um einen Prozentpunkt in Österreich, gar um fünf Prozentpunkte in der Schweiz, gaben in Deutschland 42 % der Befragten an, unter Stress zu leiden, das sind zwei Prozentpunkte mehr als im vorigen Jahr. Das weniger erstaunliche Ergebnis: Vor allem Probleme in der Unternehmensführung werden als Grund für den hohen Stresslevel genannt. Zitat Marco Nink, Forschungsleiter der Studie: „Beschäftigte, die von guter Führung berichten, fühlen sich weniger gestresst und mehr gebunden als Beschäftigte, deren emotionale Bedürfnisse am Arbeitsplatz übersehen oder ignoriert werden.“ Es ist seit Jahren, seit Jahrzehnten, das gleiche, dieses Problem ist wahrhaftig kein neues. Führungskräfte brauchen Coachingqualitäten, die lernen sie zum Beispiel bei uns. Wie wichtig ein individueller Ansatz ist, und welche Techniken dafür besonders hilfreich sind, darüber wurde in diesem Newsletter schon öfter geschrieben. Doch es gibt einen weiteren wichtigen Ansatz, den systemischen, denn im Grunde genommen ist Stress so ansteckend wie Covid, und wenn Stress einmal im System ist, pflanzt er sich fort.

Ebenfalls seit Jahren ist zum Beispiel bekannt, dass man ganze Abteilungen, ja, ganze Unternehmen in einen stressbedingten Burnout führen kann. Wie das geht? Ganz einfach, indem man sich zum Beispiel viel zu viele Projekte aufhalst. Man hat schon eine ganze Menge am Laufen und nimmt trotzdem noch weitere an. Dabei ist allen klar, dass einige der Projekte, mit denen man sich nun schon so lange herumquält, im Grunde genommen schon „klinisch tot“ sind. Man will es sich nicht eingestehen oder hält aus Gewohnheit daran fest. Oder der, der sich davon einen Image-Gewinn oder was auch immer erhofft, setzt wider alle Vernunft auf lebensverlängernde Maßnahmen, die viel zu viel Energie kosten und alle mit unglaublich viel vermeidbarem Stress belasten. Da braucht es, vielleicht zusätzlich zu einem individuellen, einen systemischen Ansatz, um des Problems Herr zu werden.

Was bedeutet „systemischer Ansatz“ ganz grundsätzlich?

Es geht den Systemikern sehr stark um die Mustererkennung innerhalb eines Systems. Sie unterscheiden Problemmuster und Lösungsmuster. Muster bedeutet, dass wie bei einem Gewebe Verhalten, Emotionen, Denken und Schlussfolgerungen miteinander verwebt oder vernetzt sind zu einem Muster. Ändert man etwas auf irgendeiner Ebene, ergibt sich automatisch auch ein anderes Muster. So könnte ein Muster zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter folgendermaßen aussehen: Der Vorgesetzte nimmt immer wieder vermeidbare Fehler seines Mitarbeiters wahr. Er reagiert darauf mit Ärger, da seine Schlussfolgerung ist: „Der Kerl will mich ärgern!“ Daraufhin macht er dem Mitarbeiter Druck. Der Mitarbeiter reagiert innerlich mit Angst, weil er aus dem Verhalten des Chefs schlussfolgert, dass sein Arbeitsplatz langsam in Gefahr ist. Dies würde für ihn eine existentielle Bedrohung bedeuten. Aus der Angst heraus blockiert er immer mehr sein Denken und die nächsten Fehler sind vorprogrammiert. Das löst beim Chef erneuten Ärger aus etc. Dieses Verhaltensmuster hat sich im Laufe der Zeit gut zwischen Chef und Mitarbeiter eingespielt.

Würde nun zum Beispiel der Mitarbeiter seine Schlussfolgerung ändern und sich sagen: „Mein Chef ist offensichtlich sehr wohlmeinend, denn trotz vieler Fehler meinerseits gibt er mir immer noch Feedback zu den Fehlern und keine Abmahnung“, bräuchte er nicht so mit Angst zu reagieren und würde vermutlich nicht so blockieren und daraufhin weniger Fehler produzieren. Das gesamte Muster änderte sich. Genauso würde es aber auch geschehen, wenn der Chef seine Schlussfolgerung ändern würde und sich sagte: „Der Mitarbeiter hat einfach Angst Fehler zu machen. Durch mehr Druck wird es nur schlimmer.“ Auch dann könnte sich das Muster ändern. Aber auch, wenn einer von beiden zum Beispiel emotional anders reagieren würde, hätte es Auswirkungen auf das Muster ihrer problematischen Zusammenarbeit.

Eine kleine Änderung auf einer Systemebene kann sehr leicht große Auswirkungen auf das gesamte Muster haben.

Systemiker sind nicht so sehr an dem „Warum“ eines Verhaltens oder den Absichten interessiert, als vielmehr an den Auswirkungen. Die Absichten können sehr gut sein, aber die Auswirkungen des eigenen Verhaltens sind ganz andere als man wollte. Das ist etwas, was man im Alltag immer wieder beobachten kann, auch auf privater Ebene. Da droht jemand, sich von seinem Partner zu trennen. Das löst bei diesem die Angst aus, den anderen zu verlieren. Seine Absicht ist dann, den Partner wieder für sich zu gewinnen. Sein Verhalten besteht aber darin, dass er dem Partner Vorwürfe macht oder klammert. Das führt dazu, dass der Partner noch mehr auf Abstand geht, was wiederum zu vermehrten Vorwürfen führt oder zu noch mehr klammern. Die Absicht, den anderen wieder zu gewinnen ist gut, doch die Auswirkungen seines Verhaltens bringen ihn seinem Ziel nicht näher, eher im Gegenteil.

Wie kommt man hinter die Muster von Verhaltensabläufen?

Dazu gibt es diverse Verfahren. Wir wollen uns hier auf zwei Fragetechniken beschränken. Eine davon ist das „zirkuläre Fragen“. Dabei werden in einem Team die einen über das Verhalten der anderen befragt. „Was löst das bei Ihrem Chef für Reaktionen aus, wenn Ihr Kollege X wieder zu spät kommt? Wenn der Chef dann diese Verhaltensweisen zeigt, wer reagiert am schnellsten im vom Chef gewünschten Sinne, wer am wenigsten, wer überhaupt nicht? Wenn der Kollege Y überhaupt nicht im gewünschten Sinne reagiert, was tut dann Kollegin Z?“ So kann das lange weitergehen. Jeder kann sich mit seinem Verhalten aus der Sicht der anderen auseinandersetzen und dieser Wechsel der Blickrichtung führt zu ganz neuen Einsichten. Dadurch, dass die Abhängigkeiten der Verhaltensweisen der einzelnen erarbeitet werden, werden dabei oft zum ersten Mal die Wechselwirkungen der verschiedenen Verhaltensweisen verstanden. Dies führt meistens schon zu Veränderungen in den Verhaltensweisen. Denn ein Teil des Problemgewebes war, dass das Verhalten unbewusst abläuft. Das Gleiche jetzt mit vollem Bewusstsein zu tun, mit Kenntnis der Auswirkungen auf die anderen, verändert unter Umständen schon das ganze Muster drastisch

Die andere Art der systemischen Fragen ist die Frage nach Unterschieden, zum Beispiel: „Wer leidet am meisten unter der Situation, wer am wenigsten? Wer würde als erster reagieren, wenn Sie .... machen würden? Wann tritt das Problem im Team am häufigsten auf? Tritt das Problem manchmal gar nicht auf?“ Diese Art der Fragen helfen weiter, wenn Probleme sehr pauschal geschildert oder auch so erlebt werden. „Bei uns ist eigentlich immer schlechte Stimmung, deswegen gibt es soviel Stress.“ Fragen wie: „Wann ist mal etwas besser? Hat es Ausnahmen gegeben?“ usw. sind hilfreich, um das Muster sichtbar zu machen und um ein differenzierteres Bild entstehen zu lassen.

Stress im System entsteht übrigens manchmal auch, wenn er „sozial erwünscht“ ist. Es gibt Unternehmen, die scheinen einen geheimen Code zu haben, der besagt, dass nur, wer morgens um acht schon gehetzt und abgearbeitet durch die Büroetagen düst, sich für Beförderungen empfiehlt. Das läuft selbstverständlich nicht bewusst und absichtlich, aber es hat sich etabliert. Und der Stress, der dabei entsteht, ist real und er pflanzt sich fort. Denn ein gestresster Manager erzeugt gestresste Mitarbeiter – wie gesagt: Stress ist eine sehr ansteckende Krankheit. Die gute Nachricht ist: Man kann Resilienzen dagegen entwickeln! Fragen Sie uns!